Experten-Blog

Autonomere und flexiblere Robotik: Maschinelles Lernen ermöglicht matrixfähige Kommissionierzelle

Felix Spenrath & Richard Bormann /

Ein Kunde ruft an und möchte sobald wie möglich ein neues Ersatzteil produzieren lassen. An sich eine erfreuliche Nachricht – aber natürlich wissen Sie, dass die Maschinen die zugehörigen Werkstücke noch gar nicht kennen. Bisher ist es sehr aufwendig, die Produktionslinie entsprechend umzustellen. Die Matrixproduktion ermöglicht mehr Flexibilität und vereinfacht eine solche Umstellung deutlich. Das Fraunhofer IPA zeigt an einem Demonstrator, wie sich die Vereinzelung, Zuführung und Kommissionierung von Bauteilen matrixfähig umsetzen lässt.

Auf allen Ebenen ist heutzutage Flexibilität gefordert. Lieferketten brechen zusammen, Fachkräfte fehlen und Konsumenten wünschen sich immer individuellere Produkte. Das führt zu sinkenden Losgrößen und einer zunehmend personalisierten Produktion. Mit etablierten Prozessen ist dies wirtschaftlich und technisch kaum noch umsetzbar. Eine Lösung bietet die resiliente und technologieübergreifende Matrixproduktion. Sie ermöglicht, große Stückzahlen wirtschaftlich herzustellen und ist gleichzeitig variantenflexibel sowie skalierbar. Doch wie können die Maschinen auf Fertigungsebene mit der hohen Variantenvielfalt umgehen? Wenn jede Veränderung individuell eingelernt und programmiert werden müsste, könnte die Produktion im heutigen volatilen Umfeld nicht lange bestehen.

 

© Andrine Theiss

AI-Picking – Die matrixfähige Roboterzelle

Für eine flexible, materialoffene Produktion benötigt man Roboterzellen, die sich selbst konfigurieren können sowie resourceneffizient und zugleich technologieübergreifend agieren. Sie sollten im Idealfall schnell eingerichtet sein und Störgrößen selbst kompensieren. Das Fraunhofer IPA hat sich dieses Problems angenommen und forscht daran, wie sich eine Roboterzelle zur Vereinzelung, Zuführung und Kommissionierung mittels maschinellem Lernen und Simulation selbstständig konfigurieren kann.

Glücklicherweise mussten die Forschenden nicht bei null anfangen. Sie konnten sich auf industriereife IPA-Technologien wie den Griff-in-die-Kiste stützen und im großen Wissensfundus zur Kommissionierung, Simulation und Künstlicher Intelligenz (KI) bzw. dessen am meisten verbreitetem Teilgebiet Machine Learning (ML) graben. Mithilfe dieser Technologien ist der Demonstrator »AI-Picking« entstanden – eine matrixfähige Roboterzelle, die sich durch maschinelles Lernen und Simulationstechnologien selbst konfiguriert. Sie vereinzelt Werkstücke und erledigt gleich noch deren Zuführung und Kommissionierung.

Deep Learning: Training in Simulationen

Genutzt wird hier die Technik des »Deep Learning«, also tiefer neuronaler Netze. Damit diese Netze eigenständig richtige Ausgaben wie beispielsweise hinsichtlich eines erkannten Objekts oder automatisch generierter Greifpunkte liefern können, müssen sie zunächst mithilfe großer Datenmengen trainiert werden. In der Realität sind solche Datensätze und Trainingsszenarien nicht sinnvoll umzusetzen, denn die Hardware würde verschlissen und stünde zu lange still. In Simulationen hingegen ist dieses Training problemlos möglich. Das Gelernte wird dann auf die reale Anwendung übertragen (»Sim-to-Real Domain Transfer«), die danach sofort einsatzbereit ist. Um den gesamten Trainingsprozess möglichst einfach zu gestalten, wurde eine entsprechende Trainingspipeline geschaffen, durch die die matrixfähige Roboterzelle automatisch mit einem digitalen Zwilling konfiguriert wird. Das selbstständige Einlernen neuer Werkstücke und die automatische Rekonfiguration ermöglicht eine zügige, flexible Produktion auf allen Ebenen.

Dank einer auf KI-basierten Objektlageschätzung, können die Bauteile in ihrer Kiste schnell und sicher erkannt werden. Das gilt sogar für herausfordernde Bauteile wie beispielsweise dünne Blechteile, die die 3D-Sensoren nur schwer von ihrer Umgebung wie anderen Bauteilen oder dem Kistenboden unterscheiden können. Hierfür segmentiert der Algorithmus zunächst die Bauteile aus der gesamten Punktewolke und arbeitet dann mit diesem »Ausschnitt« weiter.

Sogar Bauteile, die dazu neigen sich zu verhaken, können mit der Roboterzelle gehandhabt werden. Hier schafft es der Algorithmus dank der Technologie »Reinforcement Learning«, also dem Lernen durch Versuch und Irrtum, diese Verhakungen zu erkennen und sogar auch lösen zu können. Um die genannten Herausforderungen lösen zu können, benötigen die Algorithmen möglichst genaue 3D-Sensordaten. Damit Unternehmen in Zukunft auch günstigere Sensoren einsetzen können, arbeitet das Fraunhofer IPA daran, die Sensordaten mittels 2D-Kamerabilder und KI zu verbessern. Um die Anwendung automatisch einrichten zu können, unterstützt ein Algorithmus den Roboter bei der automatischen Greiferauswahl und schlägt ihm eine Vorauswahl geeigneter Greifpunkte sowie den passenden Greifer für ein modellbasiertes, also auf vorhandenen Objektdaten basierendes Greifen vor.

Autonomes Umrüsten

Möchte der Kunde nun ein neues, verändertes Produkt entwickeln, müssen die Mitarbeiter nur eine minimale manuelle Konfiguration der neuen Bauteile vornehmen. Den Rest erledigt die Roboterzelle selbst, denn mit vorgegebenen Bauteilnummern kann sie sich automatisch umrüsten und beispielsweise selbstständig auf einen geeigneten Greifer wechseln. Zusätzlich geht sie robust mit verschiedenen Kisten oder empfindlichem Verpackungsmaterial um.

Doch auch wenn Sie noch nicht bei einer vollständigen Matrixproduktion angelangt sind, könnte der Hardwaredemonstrator für Sie interessant sein: Die Technologie ist nämlich auch für ein einfacheres Einlernen in der klassischen Produktion geeignet – selbst für Laien. Melden Sie sich bei uns, wenn Sie Ihre Werkstücke auch gerne automatisch vereinzeln, zuführen und kommissionieren möchten. Gemeinsam mit den Partnern des SE.MA.KI-Projekts machen wir Ihre Produktion zukunftsfähig!

Dieses Forschungs- und Entwicklungsprojekt wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert (Förderkennzeichen: L1FHG42421). Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autor:innen.